Unsere vergorenen Wunden von Katrin Pitz

Eine Klientin testet die Grenzen ihres Psychotherapeuten aus. Manchmal lässt sie ihn zappeln, manchmal teilt sie bereitwillig ihre Träume, Erlebnisse und Widersprüche mit ihm. Was davon entspricht der Wahrheit? Und wer hat am Ende die Macht der Interpretation?

Der Therapeut erkundigt sich immer wieder, ob die Klientin Worte für ihre Erfahrungen findet. Sie demonstriert regelmäßig, dass sie ihm mindestens ebenbürtig ist, wenn nicht sogar überlegen, und das nicht nur sprachlich. Eine therapeutische Sitzung entwickelt sich so zu einem intellektuellen Kräftemessen. Die diskutierten Themen sind klassischer Natur: Krankengeschichten, Beziehungen, Arbeitsverhältnisse und Träume.

Die Klientin spricht jedoch stets mit der Absicht, niemanden, der ihr wichtig ist, zu verraten, und ohne ein traditionelles Machtgefälle entstehen zu lassen. Beide weisen sich gnadenlos auf die Widersprüche ihrer Gespräche hin. Schließlich tritt eine dritte, namenlose Instanz auf den Plan, die rückblickend hinterfragt, wer in dieser Analyse zu welchem Zeitpunkt überzeugend war.