In ihrem neuen Roman lotet Judith Hermann – am Beispiel ihrer Protagonistin - den Begriff «Daheim» aus: Mit fast 50 wagt diese einen Neuanfang an der Küste. Luzia Stettler diskutiert mit der Autorin über die Sehnsucht nach Geborgenheit und den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.
«Daheim» ist ein nachdenkliches, kluges und mitunter auch witziges Buch, das vor allem vom Zauber einzelner Szenen lebt. Geschickt verbindet Judith Hermann die lange Form des Romans mit poetischen Miniaturen. Einmal mehr überzeugt sie durch ihre karge, kunstvolle Sprache; diesen typischen lakonisch-melancholischen Sound, der – wie ein Kritiker einmal schrieb – «tatsächlich süchtig machen kann».
Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin, eine Frau im mittleren Alter, die sich nach einer gescheiterten Ehe aus der Stadt verabschiedet und sich in ein kleines Dorf an der Nordsee zurückzieht. Dort jobbt sie im Restaurant ihres Bruders, und versucht sich – als verwaiste Mutter, denn Tochter Ann ist gerade ausgeflogen, – im Leben neu einzurichten, noch unschlüssig, wie sie die Weichen nun stellen soll.
Die Protagonistin ist im Grunde genommen eine Suchende – wie viele Leute in ihrem Umfeld auch: sie forscht nach Wurzeln, die sie nie gehabt hat. Aber auch nach einem Ort, wo sie – wie Nachbarin Mimi – «gut zufrieden» sein könnte. Und die Stärke dieses Buches besteht genau darin, dass uns Judith Hermann klar macht, wie unterschiedlich Menschen dieses «Daheim» für sich definieren, und wie volatil so ein Begriff im Laufe einer Lebensspanne auch sein kann.
Buchhinweis:
Judith Hermann. Daheim. S. Fischer Verlag, 2021.