»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«, Johann Nestroy
In der vorigen Episode habe ich versucht das Zusammenspiel von Innovation und Fortschritt unter die Lupe zu nehmen. Ziel war es zum Nachdenken und vor allem auch zum Widerspruch anzuregen. Ich freue mich auch weiterhin über Anregungen und Kommentare.
In dieser Episode gehe ich einen – etwas spekulativen – Schritt oder Frage weiter. Scheitern wir vielleicht nicht nur daran zwischen Innovation und Fortschritt zu unterscheiden, sondern ist das Problem vielleicht wesentlich tiefer liegend: leben wir in einem Zeitalter der Stagnation, wo zwar viel Lärm gemacht wird, sich tatsächlich aber recht wenig bewegt?
Ein Blick zurück. Philipp Blom beschreibt die tatsächlich enormen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als bemerkenswertes Beispiel greife ich die Neurasthenie heraus, die zeigt, als wie schnell und überwältigend diese Entwicklungen wahrgenommen wurden. Blom zitiert einen George Miller Beard, Art der Zeit:
»Es gibt eine große Familie von funktionellen nervösen Störungen, die unter den hinter verschlossenen Türen arbeitende Klassen der zivilisierten Länder immer häufiger werden. In diesem Land beträgt die Anzahl der Menschen, die an dieser Krankheit leiden, Hunderttausende«
In der Tat ist auch objektiv eine enorme Entwicklung in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft zwischen 1900 und 1960 zu beobachten.
In einem Gespräch kommen Peter Thiel, Eric Weinstein zu der Erkenntnis, dass wir in einem Zeitalter der Stagnation (seit den 1970er Jahren) leben; mit wenigen Ausnahmen (vor allem Informationstechnologie uns Software). Stagnation in der Wissenschaft, der Technologie aber auch kaum Wirtschaftswachstum. Volatität wird als Dynamik missverstanden.
Der absolut überwiegende Teil der wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen auch der heutigen Zeit wurden vor den 1970er Jahren gelegt.
Haben wir ein Problem in der Wissenschaft (ist es ein fundamentales Erkenntnisproblem, oder eines der wissenschaftlichen Praxis)? in der Umsetzung in die Technologie? In unseren Organisationen?
»Wir leben in einer Art von intellektuellen Truman-Show, wo alles um uns herum falsch ist und etwas super-aufregendes passieren wird.«, Eric Weinstein
Thiel und Weinstein sind nicht die einzigen, die derartige Ideen vertreten: Artikel von Frank Schirrmacher und David Graeber sowie ökonomische Aspekte durch Robert Gordon: keine nennenswerte Zunahme an Produktivität, Innovation und Wachstum in den letzten Jahrzehnten.
Zuletzt werfen wir einen Blick auf die sehr interessanten Beobachtungen der Physikerin Sabine Hossenfelder, die ähnliche Beobachtungen aus der Innensicht der modernen (theoretischen) Physik macht.
»Meine Generation ist bemerkenswert erfolglos – in mehr als 30 Jahren ist es uns nicht gelungen, die Grundlagen der Physik zu verbessern«
Aber so erfolglos können wir gar nicht sein, dass wir die Lautstärke des Marketings nicht ständig aufdrehen.
Stimmt es also, dass wir – entgegen dem lautstarken Marketing – tatsächlich eher in einer Welt der wissenschaftlichen und technologischen Stagnation leben?
Und falls das so ist: warum ist das für unsere Gesellschaft und Zukunft von größter Bedeutung!?
Wie immer: schicken Sie mir Ihre Meinungen, Kritikpunkte, Ergänzungen, z.B. über Twitter, und über dieses Feedback-Formular.
Referenzen
Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914 (2011)
The Portal: Eric Weinstein, Peter Thiel (im besonderen die ersten 30–40 Minuten)
David Graeber im Gespräch mit Peter Thiel, Where did the future go?
Frank Schirrmacher, Neil Armstrongs Epoche: Das Drama einer Enttäuschung (FAZ) (ca. 2012)
Klaus Kornwachs, Philosophie der Technik (C.H.Beck Wissen) (2013)
Antibiotika: Das Wundermittel wirkt nicht mehr, ZEIT Online
Missing Link: Der 3D-Drucker, oder: die industrielle Revolution, die nicht stattfand
David Graeber, Bürokratie, Die Utopie der Regeln (2017)
Robert Gordon, The death of innovation, the end of growth (TED-Talk)
Sabine Hossenfelder, Lost in Math
Konrad Paul Liessmann, Dienst ohne Vorschrift – 200 Jahre nach seinem Tod wäre Immanuel Kant, einer der größten Denker der Moderne, chancenlos, sich im heutigen Wissenschaftsbetrieb durchzusetzen. Der Standard, 6. Februar 2004
Edward Snowden, Permanent Record (2019)
Tim Jackson, Prosperity without Growth (2009, 2016)