Die WM 2006 in Deutschland ging als Sommermärchen in die Geschichte ein.
Die Deutschen überraschten die Welt: Sie spielten ganz anderen Fußball
als zuvor. Sie waren herzlich und gastfreundlich. Und: Sie waren
plötzlich ganz offen stolz auf sich und ihr Land. Schwarz-Rot-Gold
prägte die Fanmeilen, Balkone und Häuserfassaden. "Die Welt zu Gast bei
Freunden" lautete das offizielle Motto des Turniers – und die Deutschen
füllten es mit Leben. Der unverkrampfte Patriotismus, oft
"Partypatriotismus" genannt, gilt als großes Erbe der Weltmeisterschaft
2006. "Ich habe mich wirklich sehr gefreut, nicht nur für die Ergebnisse
der Mannschaft, sondern auch für das Land", sagt die französische
Journalistin Cécile Calla in dieser Folge von Was Jetzt. Sie berichtete
zu der Zeit aus Deutschland für französische Medien. Sogar der damalige
UN-Generalsekretär Kofi Annan sagte: "Die Welt hat keine Angst mehr vor
übertriebenem Patriotismus in Deutschland."
Doch spätestens mit der Niederlage im Halbfinale gegen Italien kippte
mancherorts die Stimmung. So erinnert sich der Politologe Richard
Gebhardt an das Turnier. "Das ist die klassische Kritik am Patriotismus,
die stimmt", sagt er, "dass die Liebe zum Eigenen ganz schnell im Falle
der Erfolglosigkeit auch umschlagen kann in den Hass auf andere." Und
der Sozialwissenschaftler und Ex-Fußballer Özgür Özvatan erinnert sich
trotz aller "entspannten Begegnungen" auf der Berliner Fanmeile auch an
die Schattenseite jener Zeit: "Wir haben ja trotzdem den strukturellen
Rassismus gesehen."
Unmittelbar vor der WM hatten in Kassel nach dem Mord an Halit Yozgat
Migrantinnen wegen der Mordserie an migrantischen Menschen demonstriert.
Heute weiß man: Es war der Nationalsozialistische Untergrund (NSU).
Gehör fanden die Angehörigen der Opfer so kurz vor dem Sommermärchen
kaum. Die Deutschland-Party ging los. Ebenfalls vor der WM hatte es
Warnungen vor sogenannten No-go-Areas für Schwarze Menschen gegeben, die
sich auch in Übergriffen während der WM bestätigten. Nach der WM wurde
der NSU enttarnt. Thilo Sarrazin veröffentlichte seinen Bestseller
Deutschland schafft sich ab. Die AfD gründete sich, zog in den Bundestag
ein und ist heute fester Teil der Parteienlandschaft.
Nun, vor dem nächsten großen Turnier in Deutschland, der
Europameisterschaft 2024, die an diesem Freitag beginnt, stellt sich
also die Frage: Wird es ein zweites Sommermärchen geben? Dafür aber muss
geklärt werden, wie man sich angesichts des Rechtsrucks in Deutschland,
in dem eine in Teilen rechtsextreme Partei Wahlerfolge feiert, heute an
diese Zeit zurückerinnert.
In diesem Spezial von Was jetzt? geht Host Fabian Scheler zurück in den
Sommer 2006 und spürt der Stimmung von damals nach. Er versucht zu
verstehen, wie diese Wochen möglich waren, was von ihnen geblieben ist
und wie die Nationalmannschaft von Kulturkämpfen über Identität und
Zugehörigkeit erfasst wurde.
Moderation und Produktion: Fabian Scheler
Redaktion: Jannis Carmesin und Christian Spiller
Sounddesign: Joscha Grunewald
Alle Folgen unseres Podcasts finden Sie hier. Fragen, Kritik,
Anregungen? Sie erreichen uns unter wasjetzt@zeit.de.
Weitere Links zur Folge:
WM 2006: Jetzt ging's los
Unser Ballgefühl – müssen wir siegen? Können wir gut gelaunt sein? Was
die WM 2006 über uns Deutsche verrät.
Deutschland, ein Sommermärchen (Der Spiegel)
Patriotismus: Die Nation
Studie zur Fußballweltmeisterschaft: Fußballtaumel und
Fremdenfeindlichkeit (Süddeutsche Zeitung)
„Kein 10. Opfer!“ – Kurzfilm über die Schweigemärsche in Kassel und
Dortmund im Mai/Juni 2006
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